Salon Shabka | Zerbrechliche Zukunft im Prekariat

“Das Prekariat” bildete das Thema unseres Salons am 21. Dezember 2016 in Wien. Wir haben den Grundlagen des Prekariats nachgespürt und den Begriff aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet.

Zur Annäherung an das Thema erwies sich der Roman Traurige Freiheit von Friederike Gösweiner als idealer Einstieg. Eindringlich beschreibt die Autorin die Grenzen der Versprechen von gestern, aber auch was es bedeutet, heute – jenseits von Sicherheiten – jung zu sein. Es ist ein Roman über Einsamkeit, Austauschbarkeit und eine durch Wettbewerb entsolidarisierte, durchökonomisierte Gesellschaft. Friederike Gösweiner trifft damit einen Nerv der Zeit. Damit eröffnet sie Raum für Fragen, die die Grundlage unserer Diskussion bildeten.

In der Auseinandersetzung mit dem Roman wird klar, dass Prekariat für mehr als nur Arbeitslosigkeit steht und einen dynamischen und vielschichtigen Begriff beschreibt. Das Prekäre scheint zwischen der Gefahr des Stürzens, des Verharrens und des Aufstiegs zu stehen, stets verbunden mit Möglichkeiten und Risiko gleichermaßen, immer aber gekennzeichnet durch den Mangel und das Stehen am Rande des Abgrunds.

Diese verschiedenen Zugänge haben Paul Winter und Lukas Wank als Anlass für eine Diskussion genommen, die den Raum eröffnete, sich prekären Realitäten anzunähern und diese gemeinsam zu reflektieren.

Der Denkanstoß

Salon Shabka | Zerbrechliche Zukunft im Prekariat 1Friederike Gösweiner: Traurige Freiheit
Droschl Verlag, Graz 2016, 144 Seiten. 18,00 €

Die Diskussion

Salon Shabka | Zerbrechliche Zukunft im Prekariat 2
Diskussion im letzten Salon Shabka im Jahr 2016 zum Thema prekäre Arbeitswelten. Bild: Thomas König/Shabka.

Die Begriffe “prekär”/”Prekariat” in eine Diskussion zu werfen, zeigt neben seiner Vielschichtigkeit schnell auf, wie schwierig dieser Begriff zu greifen ist.. Das darunter jedeR etwas anderes versteht, muss ob der vielfältigen individuellen Erfahrungen am Arbeitsmarkt fast vorausgesetzt werden. Um letztlich aber doch zu einem gemeinsamen Nenner zu finden, empfiehlt es sich die grundlegende Differenzierung zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung zu thematisieren:
Während dem Prekariat von außen (also Prekarisierung) ein stark abgrenzender Charakter zugeschrieben wird, ähnlich wie bei den Begriffen Integration und Ausgrenzung, impliziert die Selbstzuschreibung ein politisches Moment: Sich selbst als “prekär” zu verstehen, bedeutet immer auch seine unterdrückte Position zu erkennen.  Dieser Einstieg etablierte eine Diskussionsgrundlage, die es erlaubte, sich dem Thema anzunähern.

Dennoch gelangt man in einer solchen Diskussion schnell an Grenzen. Dabei wurde aber schnell deutlich, dass sich “Prekariat” stark durch vages Klassenbewusstsein auszuzeichnen scheint, in dem alle Betroffenen ein bisschen auch KonkurrentInnen sind, im Gegensatz zur Idee der politischen Klasse, und dass so eine tiefgreifende Solidarisierung sich schwierig gestaltet. Die widersprüchliche Rolle von AkademikerInnen als ProponentInnen einerseits (ReproduzentInnen von Prekarisierung in der Arbeitswelt) und Betroffene andererseits (beispielsweise findet ein Großteil der GeisteswissenschaftlerInnen nach dem Studienabschluss nicht sofort einen Job) verdeutlicht dieses Dilemma.

Aber auch wenn man geschichtlich etwas weiter zurückgeht, findet man einen gewissen Widerspruch: Zur Zeit der industriellen Revolution begannen sich die ausgebeuteten FabriksarbeiterInnen zusammenzuschließen, um für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. In den entstandenen Gewerkschaften wurde „Solidarität“ institutionalisiert. Im Vergleich dazu scheint das heutige Prekariat jedoch aus EinzelkämpferInnen zu bestehen. Dies ist verkörpert durch ein Selbstverständnis als “Unternehmerisches Selbst”, das sich unablässig einem Konkurrenzparadigma hinzugeben hat.

Unter “Prekären” wirken Prozesse der Solidarisierung oft problematisch und der Blick von außen zeigt eine vermeintliche „falsche Solidarität“ unter deren trügerischer Oberfläche, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Unsicherheit, Zerbrechlichkeit und Selbstausbeutung schlummern. Gerade Schamgefühl verhindert dabei eine notwendige Klarheit in der Kommunikation zur Solidarisierung.

Eine Diskutantin legt die fragliche Unterscheidbarket verschiedener gesellschaftlicher Schichten im Hinblick auf Solidarität frei:

Während man mit “arbeitslos” den klassischen Arbeiter ohne Arbeit assoziiert – einen Mensch, der den Tag über kaum beschäftigt ist, eventuell sogar nicht beschäftigt sein will und auf Kosten der Gesellschaft lebt, steht demgegenüber der Begriff der prekär Beschäftigten. Das sind jene, die zwar beschäftigt sind, aber kaum bezahlt werden. Ich persönlich halte die Differenzierung zwischen diesen Gruppen für gefährlich, da diese Differenzierung die gesellschaftliche Solidarität untergräbt. Auch wenn ich zwei Studien abgeschlossen habe: Solange ich keinen Job habe, steht mir ein Hauptschulabbrecher ohne Job wahrscheinlich näher, als ein ehemaliger Studienkollege mit Job.

Nicht zu vernachlässigen sind in der Auseinandersetzung mit dem Begriff Prekariat auch die “Sozialstaatsmühlen”, der oft eine problematische Eigendynamik entspringt. Durch die so entstehende “Bürokratie der Arbeitslosigkeit” gilt es sich erst durchzukämpfen, während sich gleichzeitig mit dem Empfang von Sozialleistungen ein Schamgefühl entwickelt. Eine solche Erfahrung beschreibt beispielsweise Thomas Mahler in seinem Buch In der Schlange: Mein Jahr auf Hartz IV: “Man richtet sich ein mit schlechtem Gewissen und verändert sich durch den damit einhergehenden Verlust des Selbstwertgefühls. Es breitet sich eine tiefe Lethargie aus. Schwierig ist der Absprung. Man bewirbt sich nicht, weil man Hartz IV bezieht und deshalb bleibt man auch Hartz IV EmpfängerIn“.

Bei diesem Blick tiefer hinein in die Gesellschaft darf man aber dennoch nicht die strukturellen Gründe aus den Augen verlieren, deren kennzeichnendster gemeinsamer Nenner eine durchaus systemisch bedingte ökonomische Unsicherheit ist. Eingebettet ist diese Unsicherheit in Prozesse der Prekarisierung unter dem Deckmantel Wettbewerbslogik, Individualisierung, Konkurrenzfähigkeit, Flexibilisierung usw.
Auch Bildung ist zur Materialschlacht und somit ein Filter des sozialen Aufstiegs geblieben, sie muss sich jedoch mehr denn je dem Diktum der Verwertbarkeit unterwerfen. Insgesamt sind es diese Begriffe, die einen Diskurs um eine „neues Menschenbild“ (leistungsstark, modern, flexibel, gebildet, kreativ) etablierten, das gesellschaftlich hegemonial wirkt, wie Christoph Reinprecht feststellt. Für Mario Candeias ist das auch der Grund, warum der Großteil der Gesellschaft das Prekariat noch immer als individuelles Phänomen sieht und es nur bedingt in seiner Gesamtheit erfasst. Kurzum: “Wer versagt, ist selbst schuld.” Aber eben nur vermeintlich.

Bezeichnungen wie „System- oder ModernisierungsverliererInnen“ übersehen dabei den unterschwelligen neoliberalen Konsens, der mitunter verantwortlich für eine spezielle Grundhaltung ist, nach der prekär lebenden Menschen zudem Selbstverschuldung vorgeworfen und ihnen mit Verständnislosigkeit und Kritik begegnet wird. Im Literaturklub des SRF wird diese an Zynismus grenzende Haltung erschreckend deutlich. Die Langzeitfolgen von  Slogans wie „Wohlstand für alle“ oder „Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s allen gut“ lassen grüßen. Diese dogmatischen Versprechen zeigen jedoch auch die Grenzen gestriger Garantien. Eine TeilnehmerIn des Salons formulierte es so:

Die Grundidee des Neoliberalismus war doch, dass letztlich jeder für sein Glück verantwortlich ist, dass “Leistung” belohnt wird. Wer kein Glück hat, wer also ohne fixen Job ist, der hat einfach nicht genug geleistet. Diese Idee, dass Leistung belohnt werden könnte und die mangelnde Belohnung eben das Produkt mangelnder Leistung sei, führt dazu, dass sich Arbeitslose, arbeitslose AkademikerInnen, prekär Beschäftigte und prekär beschäftigte AkademikerInnen einerseits selbst die Schuld an ihrer Situation zuschreiben, andererseits auch von der Gesellschaft verurteilt werden. Ich persönlich habe noch nie jemand getroffen, der seine Situation als “prekär” definieren würde. Hat man einen Job ist man stolz darauf, malt seine Bedeutung und Bezahlung besser aus, als sie ist. Hat man keinen, maskiert man dies, indem man beispielsweise weiter studiert. Oder “freier Journalist”, “freier Übersetzer” ist. Von einem Praktikum zum nächsten zu springen lässt dem Betroffenen wenigstens die noch die Illusion, Teil des Systems zu sein. Prekariat zeichnet sich deshalb für mich auch durch Individualisierung eines weltweiten gesamtgesellschaftlichen Problems und eine gefühlte Vereinsamung aus.

Stoff zum Weiterdenken

Thomas Mahler – In der Schlange: Mein Jahr auf Hartz IV
Nach dem Studium fand Thomas Mahler keinen Job und meldete sich arbeitslos. Die Konsequenz: Hartz IV. In seinem Buch erzählt er von Bewerbungstrainings, von 1-Euro-Jobs, von freundlichen Sachbearbeitern und von langen Schlangen. Er erzählt von Seminaren, die motivieren sollen, aber genau das Gegenteil erreichen. Von Agenturen, die an der hohen Arbeitslosigkeit verdienen, sie aber trotzdem verringern wollen. Vom leisen Irrsinn hinter bürokratischen Kulissen, von äußerer Passivität und innerer Aggression, davon, wie schnell man sich in der Armut einrichten kann.

Günther Anders – Mensch ohne Welt
“Mensch ohne Welt” versammelt einige der bedeutendsten Schriften Anders’ zu Kunst und Literatur und zu den “Menschen ohne Welt”, den Proletariern und – mehr noch – den Arbeitslosen, die laut Anders gezwungen sind, “innerhalb einer Welt zu leben, die nicht die ihrige ist; einer Welt, die […] nicht für sie da ist” (S. XI).

Hamburger Morgenpost, 14. Dezember 2016
Faule Ausreden: Erfolgreiche Menschen würden diese 9 Sätze niemals sagen
Es sind Meldungen dieser Art, die uns das neoliberale Menschenbild einreden, nach dem wir leistungsstark, modern, flexibel und gebildet sein müssen, um glücklich zu sein. Prokrastination, also extremes Aufschieben, wird dabei mitunter als ein ernstzunehmendes psychisches Problem angesehen, das behandelt werden muss.

Joachim Bauer – Arbeit. Warum sie uns glücklich oder krank macht
Joachim Bauer geht der Frage nach, ob wir die Arbeit oder sie uns schafft. Dabei spricht er auch an, wie wir angesichts der beispiellosen Zunahme von Stress, Depression und Burn-out mit den immer umfassenderen Erwartungen an ständige Verfügbarkeit umgehen können.

Filmtipp: I, Daniel Blake. (2016)
Eine bewegende Geschichte inmitten der grotesken Bürokratie der Arbeitslosigkeit.

Jocobin, 20. April 2015
We’re All Precarious Now
Die Wirtschaft verändert sich und die Arbeit wird prekärer. Wie können sich Radikale in den neuen Bedingungen organisieren?

Salon Shabka

Der Salon will Raum für politische und gesellschaftliche Diskussionen schaffen. Alle paar Wochen kommen wir zusammen, um uns abseits des sehr hektischen, raschen öffentlichen Diskurses, in dem oft simplifiziert wird, Argumente nicht gehört werden und sich meist der/die Stärkere durchsetzt, auszutauschen.

In diesem Rahmen soll intensiv und kontrovers, differenziert und abwägend, detailliert und kontextualisiert diskutiert werden. Gleichzeitig wollen wir auch der Atmosphäre akademischer Gesprächszirkel entgegenwirken, in der ein offenes Gesprächsklima meist auch nur Phantasie ist. Deshalb sind Kommentare und kritische Anmerkungen im Salon sehr willkommen.

Unsere bisherigen Salons findet ihr hier.

Die Autoren dieses Beitrages danken den MitdiskutantInnen im Salon für die Unterstützung bei der Erstellung dieses Beitrages.

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