Wie viele sind wir? – Stuart Hall und kulturelle Identität

In seinem Aufsatz „Cultural Identity and Diaspora“ (Hall 1990: 392-403) beschäftigt sich Stuart Hall mit der Frage kultureller Identität. Ausgehend vom „Third Cinema“ (vgl. Hall 1990: 392), einer damals neuen afro-karibischen Repräsentationsform, versucht Hall, Ursprünge, Dynamiken und Implikationen der karibischen kulturellen Identität zu ergründen. Dabei stellt sich die Frage was hinter der „enunciation“, der Performance, (Hall 1990: 392) im „Third Cinema“ steckt. Welches Subjekt spricht, in welche Diskurse ist es eingebettet und wie lässt sich eine afro-karibische kulturelle Identität verorten? Ausgangspunkt ist in jedem Fall die Annahme, dass kulturelle Identität ein stets unabgeschlossener Prozess ist: Wir sind viele.

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Zugänge: Einheit und Differenz

Hall schlägt eine Annäherung aus zwei gegensätzlichen Positionen vor (vgl. Hall 1990: 393): Einerseits wurden die vielzähligen kulturellen Identitäten Afrikas durch traumatische historische Ereignisse wie den Sklavenhandel vereint. Unter den zahllosen oberflächlichen, konkurrierenden Identitäten eines Subjekts liege ein „one true self“ (Hall 1990: 393), das homogenisierend auf die kulturelle Identität wirkt. (vgl. ebd.) Diese essenzielle kulturelle Identität wird von Hall – auch in seiner späteren Schrift „Was ist ‚schwarz‘ an der popularen schwarzen Kultur?“ (Hall 2000: 98-112) –  als notwendig erachtet, um sich in Opposition gegen die dominante europäische Präsenz, die Todesmaschinerie des Imperialismus, zu stellen.

Die Frage der nationalen Kultur bei Frantz Fanon hat dieselbe Funktion: für den Befreiungskampf ist eine homogene, antikoloniale Auffassung nationaler Identität unerlässlich. Diese wird jedoch nicht ausschließlich als Folklore oder Tradition wiederentdeckt und ist historisch oder gar biologisch vorhanden, sondern entsteht im Akt des Kampfes selbst. Lediglich ihre Wurzeln liegen in einer präkolonialen Tradition.  Hall verweist ebenso darauf, dass es sich bei der einen, authentischen kulturellen Identität um eine Konstruktion, einen Akt des (Er)findens handelt:

 „We should not, for a moment, underestimate or neglect the importance of the act of imaginative rediscovery which this conception of a rediscovered, essential identity entails.“ (Hall 1990: 393)

Eine grundlegend unterschiedliche Herangehensweise ist die Annahme von Identität als eine Form von (erzwungener) Positionierung im sozialen Raum – definiert durch historische, kulturelle und politische Implikationen –  die ständiger Transformation unterworfen sind. (vgl. Hall 1990: 394)

„Identities are the names we give to the different ways we are positioned by, and position ourselves within, the narratives of te past.“ (Hall 1990: 394)

Diese Auffassung ermöglicht es, den totalitären, traumatischen Charakter des Kolonialismus zu begreifen. Die machtstrategische Positionierung europäischer kultureller Identität als dominante Form der Repräsentation wird die „Minderwertigkeit der Anderen“ – wie auch immer diese definiert werden mögen – für Jahrhunderte festschreiben (vgl. ebd.: 394f.). Die Basis ist der Siegeszug der Aufklärung, die bis heute von ihren Apologeten als “fortschrittlich” gefeiert wird. Die “Vernunft” habe gesiegt, der Krieg gegen das Wilde Denken sei gewonnen. Dass es sich bei diesem Projekt um eine skrupellose Universalisierung handelt, die das “Andere” zum “Minderwertigen” degradiert, vergessen die “Lichtbringer” gerne.

Hall verweist auf dieses Verheerende Projekt: Andersheit wird vom herrschenden europäischen Subjekt nicht nur oberflächlich aufoktroyiert, sondern in das “andere” Subjekt indoktriniert – „Otherness“ wird auf diese Weise zum inneren Zwang (vgl. ebd.). Gleichermaßen wird diese Darstellungsform von der europäischen Welt benötigt, um sich selbst als überlegen identifizieren zu können. Kulturelle Identität ist eine Positionierung und ein Positioniert-werden, angeordnet durch Macht, Geschichte, Mythos und Erinnerung:

„Cultural identities are the points of identification, the unstable points of identificaiton or suture which are made, within the discourses of history and culture. Not an essence but a positioning.“ (Hall 1990: 395, Hervorh. i. O.)

Homogenisierung durch Traumatisierung

Die koloniale Erfahrung mit all ihren Auswirkungen, insbesondere den Sklavenhandel bewirkt eine, wie Hall es nennt, paradoxe Situation: Obwohl die historischen und kulturellen Kontexte der SklavInnen keineswegs einheitlich waren, hatte die traumatische Erfahrung des Kolonialismus eine vereinheitlichende Wirkung und generierte ein – dem europäischen Kolonialismus entgegen gerichtetes – Selbstbildnis. (vgl. ebd.: 396) Das Paradoxe an der Situation ist, dass der europäische Kolonialismus gleichzeitig die Vergangenheit der SklavInnen ausgelöscht, verschoben und deplatziert hatte. Abseits einer oppositionellen Haltung gegenüber der europäischen kulturellen Identität bleibt die Differenz innerhalb der Karibik bzw. Lateinamerikas bis heute bestehen. (vgl. ebd.) Eine einheitliche, essenzialistische kulturelle Identität ist nicht vorhanden, sie wird vielmehr ausgehandelt, man positioniert sich abhängig vom Gegenüber bzw. vom Kontext.

Derridas Differance und das Spiel der Signifikanten

Die Überlegung, dass eine einheitliche (essenzielle) kulturelle Identität nicht existiere, drängt die Frage auf, wie sich die jeweiligen Stränge kultureller Positionen zusammenfügen. Hall unternimmt diesen Versuch mit der karibischen kulturellen Identität und benutzt dafür den Differance-Begriff Derridas. Jaques Derrida demontiert das Saussur’sche Zeichenmodell, indem er die Existenz eines inhaltsseitigen Zeichens – des Signifikats – grundsätzlich infrage stellt. Eine ursprüngliche, ontologische “Bedeutung” eines Zeichens existiere nicht – Bedeutung ist grundlegend konstruiert, es gibt ausschließlich ein Verhältnis der einzelnen Ausdrucksseiten zueinander – das Spiel der Signifikanten – worin Bedeutung immer wieder aufs neue erschaffen wird. Die Existenz strukturalistischer Gegensatzpaare wird damit ebenfalls demontiert, da Gegensätzlichkeit immer erst im Text, im Verhältnis der Signifikanten zueinander, entstehen.  Derridas (sprachphilosophische) Position eignet sich zur Untersuchung kultureller Identitäten: Seine Vorgehensweise folgt dem Ausmachen von „Spuren“ in einem Text, die einen Aufschluss auf seinen – immer kontextgebundenen (!) – Sinn geben könnten. (Hall 1990: 397)

Hall überträgt dies auf die karibische Kultur – verortet ihre Spuren in Afrika, Europa und der so genannten Neuen Welt – und kommt zum Schluss, dass es sich bei der karibischen kulturellen Identität um eine Diaspora – eine hybride Form handle. (vgl. ebd.: 402) Eine, wie Hall selbst zugibt, sehr exklusive Annahme. Hier wird auch das Problem Derridas Dekonstruktion deutlich: Die Auswahl von Kriterien bzw. das Verfolgen „Spuren“ bedeutet gleichzeitig auch, dass viele andere Hinweise vernachlässigt werden, die Auffassung bleibt stets subjektiv – Wahrheit bleibt stets ein Selektionsprozess.

Der Signifikant „schwarz“ – die subversive Rolle Diaspora

In einem späteren Text beschäftigt sich Hall mit den Spezifika popularer schwarzer Kultur. Dabei kommt er zum Schluss, dass in diesem Falle eine Überdeterminierung seitens der Diaspora bzw. der so genannten Herkunftstradition stattfindet. (Hall 2000: 107) Schwarze Kultur stellt in diesem Falle ebenso eine hybride Form dar, sie kommt aus (mindestens) zwei Richtungen, die so verformt werden, dass ihre Ursprünge nicht mehr erkannt werden können – eine „reine Form“ sei illusorisch. (vgl. Hall 2000: 106) Damit kommt der schwarzen popularen Kultur ein subversiver, gesellschaftsverändernder Charakter zu.

Gleichzeitig verweist der Signifikant „schwarz“ auf eine essenzialistische Position. Hier wird eine gewisse Zweischneidigkeit deutlich: einerseits kann dies als Coutner-Discourse aufgefasst werden, andererseits homogenisiert der Signifikant „schwarz“ alles darunterliegende. (vgl. Hall 2000: 109) Differenz wird als umkämpftes Terrain aufgefasst, in dem die dominanten Repräsentationsmuster andere marginalisieren, man denke an die Auffassung des „schwarzen Arbeiters“, der beispielsweise feministische Diskurse ausblendet.

Die Grundsatzfrage lautet also: Brauchen wir essenzialistische Positionen für den Widerstand? Hall spricht sich zwar dezidiert gegen eine essenzialistische Identität aus, verweist aber auch auf Spivaks „strategischen Essenzialismus“, der notwendig wäre für eine Form des Widerstandes bzw. der Subversionm gegenüber den hegemonialen Subjekten. (vgl. Hall 2000: 107)

Hall dekonstruiert die Auffassung einer einheitlichen Identität, stellt den Begriff als dynamisch, differenziert und unabgeschlossen dar. Eine derartiges Verständnis bringt rassistische und nationalistische Positionen in ihrem Selbstverständnis ins Wanken und eröffnet die Frage nach einer Spurensuche im Fahrwasser des Neokolonialismus.

Literatur:

  • Hall, Stuart (1990): Cultural Identity and Diaspora. In: Williams, Patrick / Chrisman, Laura (Hg.) (1994): Colonial Discourse and Post-Colonial Theory. A Reader. New York: Columbia University Press: 392–403
  • Hall,Stuart (2000):Was ist „schwarz“ an der popularen schwarzen Kultur? In: ders.: Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt. Ausgewählte Schriften 3. Hg.v. Nora Räthzel. Hamburg: Argument Verlag: 98–112
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