Die Sahara, ein schwelendes Pulverfass? Wirtschaftliche und politische Machtspiele

Die territorialen Grenzen in der Sahara zwischen Mali, Niger, Algerien und Libyen sind seit jeher durchlässig und die Tuareg nutzen sie für ihre Strategien von Handel, Schmuggel und Migration. Doch seit dem Libyenkrieg hat sich viel verändert. Zudem sind neue Akteure auf den Spielplatz Sahara gekommen, die an den Ressourcen der Region interessiert sind.

»Agence de Voyage: Arlit – Djanet, Arlit – Libya« steht auf dem liebevoll handbemalten Schild, dass die kleine Lehmhütte mitten in Arlit, der Uranstadt im Nordniger, ziert. In der Hütte steht ein alter Schreibtisch auf dem Listen mit Namen von Passagieren liegen. An der mit dunkelrotem Stoff verkleideten Wand hängen Fotos, die – einer touristischen Werbung gleich – zeigen, wie die Agentur ihre Passagiere nach Algerien oder Libyen befördert: 30 Personen sitzen fein säuberlich geschlichtet auf einem Toyota Pick-up und fahren durch die Wüste; jeder von ihnen mit einem fünf Liter Wasserkanister in der Hand.

Vor der Hütte sitzt Osman; schön gekleidet in einem orangen bazin, mit einen schwarzen chech um den Kopf geschlungen. Osman arbeitet hier als Verantwortlicher, wenn der Chef der Agentur, Murtala genannt, seine Dependance in Tahua besucht. Zudem ist er kamosho, »Passagiere-Auftreiber«, und guide, der den Passagieren zu Fuß den Weg von Algerien nach Libyen weist.

Früher, vor dem Libyenkrieg, erklärt mir Osman, sind die Autos bis Djanet gefahren und haben die Passagiere in den Gärten vor der Oase abgesetzt. Als jedoch im Zuge des Krieges Tuareg-Militärs und Söldner begonnen haben, das halbe Waffenarsenal al-Gaddafis außer Landes zu bringen, wurden die Kontrollen der algerischen und nigrischen Sicherheitskräfte verschärft. Seitdem traut sich kaum ein Chauffeur mehr mit seiner illegalen Fracht bis nach Djanet, sondern entlässt seine Passagiere bis zu 70 Kilometer vor dem Ort, mitten in der Sahara. Dadurch ist ein neuer Berufszweig entstanden; jener des guides, ein lokalkundiger Führer, der die Passagiere zu Fuß direkt über die grüne Grenze nach Libyen bringt.

© Ines Kohl
© Ines Kohl

EU-Absichten und lokale Strategien

Illegal ist das Geschäft mit der Grenze jedoch nur bedingt, denn hier im Niger, einem Mitglied der CEDEAO (Communauté Economique des Etats de l’Afrique de l’Ouest, eine 1975 gegründete Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten) ist es völlig legal, einen Toyota mit »sans-papiers« vollzuladen und bis an die Grenzen von Algerien oder Libyen zu bringen. Die Gendarmerie Nationale gibt dazu gegen ein kleines Entgelt die Erlaubnis. Bis zur nigrischen Grenze sind die Konvois der Toyotas also völlig legal. Über die Grenze ändert sich das schlagartig: Legaler Transport wird zu illegaler Migration.

Die Europäische Union instrumentalisiert die nordafrikanischen Staaten als Vorposten der Festung Europa, damit sie gegen die potentiellen EU-MigrantInnen vorgehen. Während Libyen unter al-Gaddafi keine wirklichen Maßnahmen ergriff, um seine südlichen Außengrenzen zu schützen und das Land zudem auf die Arbeitskraft der illegalen MigrantInnen angewiesen war, verfolgt Algerien mit aller Härte die transnationalen Akteure und versucht dadurch gleichzeitig den Benzinschmuggel in den Griff zu bekommen. Die Tuareg[1. Tuareg ist eine Fremdbezeichnung, die jedoch Eingang in den Europäischen Sprachgebrauch gefunden hat. Die emischen Termini variieren je nach Region und Dialekt: Imuhagh in Algerien und Libyen, Imushgh in Mali und Imajeghen in Niger. Das in vielen Umschriften gebräuchliche gh wird als im Rachen gesprochenes r prononciert. Aufgrund der breiten Leserschaft dieser Zeitschrift verwende ich wegen des besseren Verständnisses den europäisierten Begriff Tuareg (Pl): Sgl. fem.: Targia, Sgl. mask.: Targi. Wichtig ist mir hierbei nur anzumerken, dass Tuareg schon der Plural ist. Es gibt keine TuaregS!] die sowohl den Treibstoff- als auch den Menschenschmuggel seit Jahren erfolgreich betreiben und selbst transnationale GrenzüberschreiterInnen par excellence sind, finden jedoch immer wieder neue Strategien um die staatlichen Hürden zu umgehen (Kohl 2007, 2009, 2010).

»Was sollen wir denn sonst tun«, erklärt mir einer der Chauffeure. »Wir alle haben Familie, unsere Kinder haben Hunger, wovon sollen wir leben? Von Luft? Im Niger gibt’s keine Arbeit. Der Staat tut nichts um uns zu helfen. Entweder werden wir alle Rebellen oder Banditen, oder wir packen unsere Toyotas mit Passagieren und Benzin voll. Iban eshughl – keine Arbeit, das ist unser Problem!«

Während des Libyen-Krieges ist der Verkehr zwischen Niger, Algerien und Libyen komplett zum Stillstand gekommen. Nun beginnen langsam die ersten Hausa nach Libyen zurückzukehren und hoffen auf Arbeit. Tuareg kehren noch sehr zögerlich zurück, zu groß ist noch ihre Angst vor dem neuen Libyen.

Arlit, Zentrum für Handel, Schmuggel und Migration

Arlit ist ein Zentrum des inner-saharischen Handels und Schmuggels zwischen Niger, Mali, Algerien und Libyen. Gleichzeitig ist die Stadt der Ausgangspunkt der illegalen Migration von Sub-SaharierInnen auf dem Weg nach Libyen, um dort Arbeit zu finden oder weiter nach Europa zu gelangen.

Der nigrische Staat weiß, dass er die »human trafficking«-Strategien nicht unterbinden kann. Somit wurde eine beiderseitige Lösung zwischen den Akteuren, den Tuareg und dem Staat gefunden: Die Chauffeure müssen ihre Passagiere registrieren. Dies nutzt den Passagieren, die im Falle eines Unfalls oder einer Autopanne gesucht und gefunden werden können und es schützt sie vor skrupellosen Chauffeuren, die lediglich am Geld interessiert sind, die Passagiere mitten in der Sahara aussetzen und dem Tode preisgeben. Es dient auch den Chauffeuren, die bei einer Kontrolle der Militärs einen Passagierschein vorweisen können und sich dadurch von Banditen, Rebellen oder den Drogenschmugglern unterscheiden und somit nicht verfolgt und sanktioniert werden.

Osman kann viele Geschichten vom Geschäft mit der Grenze erzählen. Er hat bis zum Libyenkrieg als guide zwischen Djanet in Algerien und Ghat in Libyen gearbeitet und auf dem dreitägigen Fußmarsch übers Gebirge zahlreiche potentielle EU-MigrantInnen, Tuareg und in Libyen Arbeitssuchende hin- und her geführt. Mit Beginn der Kämpfe in Libyen hat er wie viele Tuareg fluchtartig das Land verlassen. Zurück in Arlit sind die Chancen eine Arbeit zu finden jedoch gering. Vor allem für jene, die keine Schule besucht haben. Allerdings finden auch jene, die Diplome vorweisen können, kaum Arbeit.

Uran, Segen oder Fluch?

Dabei ist Arlit jene Stadt, in der der französische Kernenergie-Konzern AREVA seit den späten 1960er Jahren die größten Uranminen der Welt betreibt, Somaïr (Exploration seit 1971) und Cominak (seit 1978). AREVA, zum größten Teil in Besitz des französischen Staates, ist der Weltmarktführer in der Nukleartechnik. Gleichzeitig rangiert der Niger auf dem Human Development Index von 2011[2. Niger rangiert auf Platz 186 vor der Demokratischen Republik Kongo. http://hdr.undp.org/en/statistics/.] auf dem zweitletzten Platz. Zwei Drittel des Landes sind Wüste und Halbwüste. Die ökonomische Grundlage bilden Landwirtschaft und Viehzucht, die durch alle paar Jahre wiederkehrende Dürren und ausbleibende Regenfälle oder neuerdings sturzflutartige Regenfälle stark gefährdet sind. Eine soziale staatliche Versorgung ist nicht vorhanden, Arbeit gibt es keine und die Rate der AnalphabetInnen  ist trotz eines staatlichen Schulsystems vor allem unter Frauen und NomadInnen erschreckend hoch (über 80 Prozent). Ibrahima, zwölf Jahre alt, besucht eine der staatlichen Schulen in Arlit. Er ist in der fünften Klasse (CM1) und schildert mir die Situation in seiner Schule: »Wir sind 93 Schüler, Buben und Mädchen. Wir haben zwei Lehrer und pro Tisch sitzen fünf Schüler.« Das Bildungsniveau ist dementsprechend.

Ein Großteil der nigrischen Bevölkerung lebt mit ständig drohendem Hunger, hofft auf Almosengaben und ist von europäischen Hilfslieferungen und Entwicklungsprojekten abhängig. Vor allem der von Tuareg bewohnte Norden ist von sozialer und politischer Marginalisierung und ökonomischer Misswirtschaft betroffen. Bizarr, wo doch hier der größte Arbeitgeber des Landes angesiedelt ist. Die Arbeiter in den Uranminen kommen fast alle aus den südlichen Landesteilen, während die hier lebenden Tuareg nach wie vor kaum eingestellt werden.

Uranmine Arlit; © Ines Kohl
Uranmine Arlit; © Ines Kohl

Seit einigen Jahren ist AREVA durch Negativschlagzeilen bekannt geworden. Greenpeace konnte beweisen, dass bei der Urangewinnung nicht nur die Gesundheit der Minenarbeiter gefährdet ist, sondern dass auch das gesamte Umfeld der Mine von radioaktiver Verstrahlung betroffen ist.[3. Greenpeace International (6. Mai 2010) AREVA´s dirty little secret, www.greenpeace.org/international/en/news/features/AREVAS-dirty-little-secrets060510/; Greenpeace International (2010), Left in the dust: AREVA´s radioactive legacy in the desert town of Niger, www.greenpeace.org/international/Global/international/publications/nuclear/2010/AREVA_Niger_report.pdf.] Rund um Arlit ist ein künstliches Gebirge aus Abraum, jenem Gestein aus dem das Uran ausgewaschen wurde, entstanden, zu dem jährlich mehrere Tonnen Gestein hinzukommen. Auf dem Markt in Arlit wird kontaminiertes Altmetall aus der Mine verkauft und der Sand in vielen Häusern ist teilweise bis zu 500-fach über dem Normalwert radioaktiv verstrahlt, erzählt mir Moussa, ein Mitarbeiter der lokalen NGO Aghirin Man.[4. www.criirad.org/actualites/dossiers%202007/uranium-afriq/photos-niger.pdf.] Die kleine NGO konnte mittlerweile erreichen, dass der kontaminierte Sand in Teilen der Stadt von AREVA durch unbedenklichen ersetzt wird.

Moussa, selbst jahrelang in Libyen als Dolmetscher im Tourismus tätig und im Zuge der Kämpfe zurück in den Niger geflohen, hofft, in der neuen von AREVA geplanten Mine von Imouraren, 80 Kilometer südlich von Arlit, Arbeit zu finden. Moussas Dossier mit Schulabschlüssen und Diplomen liegt schon seit einem Jahr im Gemeindeamt. Bis dato ohne Antwort. »Ohne Beziehungen oder Korruption«, meint er resignierend, »haben Tuareg keine Chance hineinzukommen«.

Eine neue Uranmine evoziert tribale Differenzen, aber auch Hoffnung

Für die Vorarbeiten in Imouraren, das 2013[5. www.areva.com/EN/operations-623/a-topranked-deposit-for-longterm-mining.htm.] mit der Uran-Exploration beginnen soll, werden nun jedoch ausdrücklich Tuareg aus der Region eingestellt. Damit hofft AREVA, die ansässige Bevölkerung zufriedenzustellen und infolge eine weitere Rebellion oder ein vermehrtes Banditenwesen zu vehindern. Zu den Forderungen der letzten beiden Rebellionen (1990 bis 1997 und 2007 bis 2009) zählten unter anderem die explizite Teilhabe an den Einkommen der Mine.

Doch die durchaus zu befürwortende Integration der Lokalbevölkerung in die neue Mine löste ein partielles Erstarken tribaler Differenz aus. Tribale Unterschiede wurden in den letzten Jahrzehnten von lokaler Seite selbst mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt und die sozialen und politisch-ökonomischen Ungleichheiten zwischen der vorkolonialen dominanten »Oberklasse« (imajeren/imujar/imuhar), den ehemaligen Nachfahren von Sklaven (iklan) und den einst tributpflichtigen Gruppen (imrad) verblassten im alltäglichen Leben. Die präferentiell endogamen Heiraten wurden vor allem von der jungen Generation (ishumar) ihrer traditionellen Wichtigkeit enthoben. In Zeiten von kapitalistischer Marktwirtschaft findet man auch Nachfahren ehemaliger Sklaven, die ihre ehemaligen Herren in Bezug auf ökonomisches Kapital überflügelt haben. Mit den Arbeitsaussichten bei AREVA jedoch, beginnen tribale Unterschiede instrumentalisiert zu werden. Jene Stämme (tawsit), die rund um Imouraren leben, in erster Linie Ikazkazen und Kel Agharus, stehen seitdem in einer Konkurrenz um die Position des Sprechers für die gesamte Region. Zudem sind die auf gleichem Territorium lebenden Stämme seit der Rebellion (2007 bis 2009) in einen Zwist verwickelt, der durch eine Entführung eines Stammesältesten der Ikazkazen durch die Kel Agharus ausgelöst und im Zuge der Konkurrenz verstärkt wurde. Auf einer nächst höheren Ebene jedoch versuchen beide die Einstellung anderer Gruppen des östlich gelegenen Aïr-Gebirges zu verhindern, indem sie diese als potentielle Rebellen und Banditen denunzieren. Damit versuchen sie vehement ihre eigenen Leute unterzubringen, selbst wenn sie über keine geeigneten Diplome verfügen.

Doch Imouraren ist die neue Hoffnung für alle nigrischen Tuareg. Viele der aus Libyen geflohenen Tuareg wollen nicht mehr zurück, da sie fürchten, dass sich die Situation in Post-Gaddafis Libyen noch lange nicht stabilisieren wird. Auch mehr als acht Monate nach Al-Gaddafis Tod schwebt sein Geist noch immer über dem Land. Vor allem jene, die noch nie in Libyen waren, sind der Meinung, ein Libyen ohne al-Gaddafi könne nicht existieren oder, wie es ein Skeptiker ausdrückt: »Libyen wird weitere 42 Jahre brauchen, damit es wieder gut wird!«.

Chaos im freien Libyen

In der Tat sieht es im Süden des Landes nicht gut aus. Zwar gibt es hier keine intertribalen Auseinandersetzungen und alle Oasen haben sich – bis auf das kleine al-Barkat an der algerischen Grenze gelegen, dass selbst nach dem Tod von al-Gaddafi noch die grüne Fahne hisste – schnell von den Resten des alten Regimes befreit: Alle öffentlichen Ämter und Büros, aber auch Schulen, wurden zerstört und geplündert. Einrichtungsgegenstände und Büromaterial finden sich entweder in diversen Privathaushalten wieder oder wurden von Tuareg außer Landes geschafft und in Algerien, Mali und Niger zum Verkauf angeboten. Moktar zum Beispiel erbeutete fünf Kopiergeräte und brachte sie zu Fuß nach Djanet, wo sie noch immer auf Käufer warten. In Agadez im Niger stehen auf riesigen Parkplätzen gestohlene Fahrzeuge aus Libyen: nagelneue Toyota Landcruiser und Pick ups, verschiedene PKW Marken und ein Großteil an Geräten der chinesischen Baufirmen.

Malische Soldaten bei einer Übung unter der Führung von US-amerikanischen Ausbildnern; © defense.gov
Malische Soldaten bei einer Übung unter der Führung von US-amerikanischen Ausbildnern; © defense.gov

In die leeren Betriebswohnungen der Chinesen in Ghat sind kurzerhand Libyer und MigrantInnen eingezogen. Ajebu, eine nigrische Targia, die mit ihren fünf Kindern und ihrem Mann seit vielen Jahren in Libyen in einem halb zerfallenen Lehmhaus einer Altstadt lebt und nie etwas von den sozialen Zuwendungen al-Gaddafis gesehen hat, okkupierte kurzerhand ein leer stehendes Appartement des Wohnhauses einer chinesischen Baufirma. Freudestrahlend erzählte sie am Telefon: »Stell dir vor! Wir haben Wasser und Strom, eine richtige Küche und Fließen am Boden!«

Kurz nach al-Gaddafis Tod und dem allgemeinen Macht-Vakuum in Libyen versuchte jeder so viel wie möglich zu erbeuten. Vor allem das von allen gefürchtete Büro für Innere Sicherheit (maktab hars ad-dachiliy), das zu Zeiten al-Gaddafis das Ziel hatte, mittels eines ausgeprägten Spitzelwesens die Bevölkerung unter Kontrolle zu halten, wurde in Ghat komplett geplündert und zerstört – Mit der Begründung dieses Amt sei einzig und allein von al-Gaddafi geschaffen worden und habe nun (endlich!) keine Legitimation mehr. Die erbeuteten Gegenstände, darunter nagelneue originalverpackte Kalashnikovs und Pistolen, wurden unter den Plünderern verteilt oder verkauft. Die dazugehörende Munition gibt es beim Zigarettenhändler ums Eck zu kaufen: Kugeln für Kalashnikovs um 50 gersh, jene für Pistolen um 25 gersh: Munition kostet so viel wie Kaugummi. Dementsprechend hoch ist die Gewalt in Südlibyen. Junge Burschen tragen ihre pubertären Konflikte nun mit der Pistole in der Hand aus. Zeinaba, eine seit 15 Jahren in Libyen lebende nigrische Targia, ist bestürzt und meint: »Unsere Kinder werden alle zu Banditen! Gestern haben sie wieder einen Mann in unserer Nachbarschaft erschossen. Wegen Geld. Das passiert jetzt täglich! Ich traue mich kaum noch auf die Straße«. Ihr Sohn Elias pflichtet ihr bei und ergänzt: »Alkohol kommt in rauen Mengen hinzu. Die Leute trinken auf der Straße, schießen betrunken Salven in die Luft und grölen »Libyen ist frei«!«

Folgen des Libyen-Krieges

Libyens Freiheit hat einen großen Preis, den nicht nur die LibyerInnen bezahlen müssen, sondern der auf die gesamte Sahara- und Sahelregion aufgeteilt wurde. Die aus Libyen geschmuggelten Waffen haben die gesamte Sahara in ein schwelendes Pulverfass verwandelt. Ein Großteil des immensen Waffenarsenals al-Gaddafis wurde außer Landes geschafft und dient nun verschiedenen Rebellen in Mali, Tschad oder Sudan. Aber auch extremistische terroristische Gruppierungen, wie zum Beispiel AQMI (al-Qaida du Maghreb Islamique), profitierten davon.

Im Niger ist mittlerweile fast jeder Nomade bewaffnet. Auch früher trugen Tuareg-Nomaden Schwerter und Messer: als Arbeitshilfe und zum Schutz gegen Schakale. Heute jedoch sind es Kalashnikovs aus Libyen. Zum Selbstschutz und zur Selbstjustiz wie Bala erklärt, da Polizei und Militär kaum etwas gegen die zahlreichen Banditen unternehmen, die ihre eigenen Leute überfallen. »Seit dem Libyenkrieg«, fügt er hinzu, »gibt es am Tiermarkt jede Menge Waffen zu kaufen. Und gar nicht teuer. Seitdem haben wir alle eine Kalashnikov zu Hause, um uns gegen die Banditen zu schützen.« Das Problem der Banditen ist eine direkte Folge der letzten Rebellion. Den Ex-Rebellen wurden im Zuge der Friedensverhandlungen, die al-Gaddafi leitete, Integration ins Militär und Entschädigungszahlungen versprochen, vom nigrischen Staat aber nicht eingehalten. Diese schlecht bis gar nicht ausbezahlten und immer noch größtenteils bewaffneten Ex-Rebellen formierten sich in den letzten Jahren zu einem unkontrollierten Banditentum und destabilisieren ebenfalls die Sahara.

Die fabrizierte Unsicherheit in der Sahara und im Sahel

Diese zunehmende Phase der Destabilisierung und Unsicherheit der gesamten Region ist jedoch nicht hausgemacht, sondern fremdinitiiert und zwar seit die USA 2001/2002 unter George Bush den »Krieg gegen der Terror« ausriefen, die Sahara und den Sahel als eine potentielle Zone des Terrorismus brandmarkten und als Rückzugsgebiet für extremistische Militante aus Afghanistan definierten. Die ersten Entführungen von Touristen in Algerien im Jahre 2003 erhärteten das Gerücht von der Sahara als Terrorzone. 2004 kreierte Georg Bush daher die Pan-Sahel-Initiative (PSI) und bekämpfte mit Unterstützung lokaler Regierungen den angeblichen Terrorismus. Jeremy Keenan zufolge ist klar, dass die Entführungen zwar von den islamistischen Extremisten der GSPC (Groupe Salafiste pour la Combat) begangen, aber von algerischen und amerikanischen Geheimdiensten geplant wurden, um den Verdacht der Sahara als Terrorzone zu erhärten. Wieso?

s5Laut Keenan ist das Ziel der USA, eine ideologische Basis für die Militarisierung Afrikas zu schaffen, um primär Zugang zu Ressourcen zu bekommen.[6. Bis 2015 werden 25 Prozent des Erdöl- und Erdgasverbrauchs der USA von Westafrika (besonders aus dem Golf von Guinea) geliefert werden müssen (Keenan 2009: 125 nach CIA Global Trends 2015).] Algeriens Motivation am inszenierten Kampf gegen den Terror mitzuwirken lag in seinem Wunsch der politischen Re-Etablierung in EU und NATO begründet. Zudem brauchte Algerien militärische Unterstützung von den USA um politisch-hegemoniale Ziele in Westafrika zu erreichen und sich gegen Libyen behaupten zu können. Die USA wiederum brauchten einen Verbündeten in Afrika, um ihre Militarisierung durchzusetzen. (Keenan 2006, 2009). Seit 2005 ist ein Rückgang der US-Stimmungsmache erkennbar, aber noch immer finden Entführungen in der Sahara und im Sahel statt, die nun der in AQMI (al-Qaida du Maghreb Islamique) umbenannten Gruppe zugeschrieben werden.

Seit der Entführung von MitarbeiterInnen der Firma AREVA in Arlit (Niger) im September 2010 werden auch nigrische Tuareg verdächtigt, Kontakte zu AQMI zu haben. Der Großteil der Lokalbevölkerung weist die Verbindungen heftig zurück und beschuldigt den nigrischen Staat ein derartiges Amalgam zu betreiben, um von der EU Gelder für den Kampf gegen den Terrorismus zu bekommen. Einige meinen jedoch, dass es Tuareg geben könnte, die für Geld mit AQMI kooperieren. Aber wenn es Kontakt gibt, dann von ökonomischer und nicht von ideeller Natur.

Einer ganzen Generation von jungen Tuareg wurde durch den inszenierten Kampf gegen den Terror die Lebensbasis entzogen. Der Wüstentourismus brach zusammen, Grenzüberschreitungen wurden schwieriger und Strategien von Handel und Schmuggel kriminalisiert. Der Krieg in Libyen verschärfte die Situation und ließ eine große Anzahl an geflüchteten arbeitslosen Sub-Sahariern zurück. Einem Großteil junger Leute wurde die Lebensbasis entzogen. Ihnen bleiben kaum Auswegstrategien aus ihrer kritischen ökonomischen und sozialen Lage.

Ausweg aus der Krise: Rebellion und Separation?

In Mali, wo am 17. Jänner 2012 eine neue Rebellion ausgebrochen ist, ist die Kooperation zwischen einer Fraktion der Tuareg und AQMI eindeutig. Der Führer von Ansar Din, Iyad ag Aghali, kooperiert mit einer Fraktion von AQMI.[7. Seit der Gründung hat sich die salafistische terroristische Bewegung in verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Strategien und Zielen gesplittet. Derzeit gibt es drei Fraktionen, die von Abdul-Hamid Abu Said, Moktar bel Moktar und Yahya Abu-Hammam, auch Yahya Juani genannt, geführt werden. (Interview mit Jeremy Kennan auf France24 am 4. April 2012, www.youtube.com/watch?v=BseudPITb6U).]

Doch der Großteil der malischen Tuareg-Rebellen, die sich in der MNLA[8. www.mnlamov.net/.] (Mouvement National de libération de l´Azawad) formiert haben, distanzieren sich explizit von Kontakten zu diesen extremistischen Gruppierungen. Der traditionell liberale praktizierte Islam der Tuareg geht mit salafistischen Ideen nicht konform.

Den malischen Rebellen geht es jedoch nicht mehr um Dezentralisierung, ökonomische Teilhabe und soziale Unterstützung, wie in den Rebellionen zuvor. Nachdem ihre bisherigen Forderungen an den Nationalstaat stets ohne Erfolg blieben, kämpfen sie nun um Autonomie und Separation vom malischen Staat. Sie sind in der aktuellen Rebellion sehr erfolgreich, nicht zuletzt, da sie gut vernetzt und organisiert und vor allem durch Waffen aus Libyen sehr gut ausgerüstet sind.

Die Neokolonialisierung der Sahara

Während sich die malischen Tuareg um die Anerkennung ihres neuen Staates bemühen, nigrische Tuareg weiterhin auf Arbeit in der neuen Uranmine hoffen und viele WestafrikanerInnen zurück nach Libyen wollen, um Arbeit zu finden, wird der Sahel von einer weiteren Hungerkatastrophe heimgesucht. Früher hat Libyen als einer der ersten Staaten mit Hilfslieferungen die verarmten NomadInnen unterstützt. Heute fehlt es an einem schnell agierenden Partner. Den Akteuren in der Sahara und im Sahel, allen voran Frankreich, USA, und China, aber auch Indien, Korea, Kanada, etc. geht es weder um humanitäre Hilfe noch um Unterstützung zur Demokratisierung, sondern einzig um Ressourcen. Erdöl, Gas, Uran und Phosphat haben neue Akteure auf den Plan gerufen und vor allem die Tuareg sind auf dem Spielplatz globaler wirtschaftlicher und politischer Interessen gelandet. Die Re-Kolonialisierung bzw. Neo-Kolonialisierung (Claudot-Hawad 2012) der Sahara und des Sahel wird jedoch weder Frieden noch Zugeständnisse von Minderheitenrechten bringen, sondern neuen Zündstoff für das bereits schwelende Pulverfass.

Verwendete Literatur

  • Claudot-Hawad, Hélène (2012) Business, profits souterrains et stratégie de la terreur La recolonisation du Sahara, www.temoust.org/business-profits-souterrains-et,15758.
  • Keenan, Jeremy (2006) Security and Insecurity in North Africa, in Review of African Political Economy, Nummer 108, 269 – 296, www.gees.org/documentos/Documen-01279.pdf.
  • Keenan, Jeremy (2009) The Dark Sahara: America´s War on Terror in Africa, Pluto Press: New York.
  • Kohl, Ines (2007) Tuareg in Libyen: Identitäten zwischen Grenzen, Reimer: Berlin.
  • Kohl, Ines (2009) Beautiful Modern Nomads: Bordercrossing Tuareg between Niger, Algeria and Libya, Reimer: Berlin.
  • Kohl Ines (2010) Saharan »Borderline«-Strategies: Tuareg Transnational Mobility, in Tilo Grätz (Hg.) Mobility, Transnationalism and Contemporary African Societies, Cambridge Scholars: Newcastle upon Tyne, 92 – 105.
This article was originally published in July 2012 in INTERNATIONAL – Zeitschrift für internationale Politik, Issue 2-2012.
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